Neulich hörte ich wieder einen Ted Talk, der mich nicht losließ. Das, worüber die Rednerin Dr. Becky Kennedy sprach praktiziere ich mit unseren Kindern. Dennoch war mir a) nicht bewusst, wieso das einen so großen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und Entwicklung unserer Kinder hat. B) konnte ich dennoch einige wertvolle Dinge aus dem Ted Talk ziehen, die ich noch besser umsetzen möchte. Und c) falls eure Kinder schon größer sind oder ihr gar keine habt: es ist nie zu spät und die Strategie lässt sich ohnehin auf jede Beziehung in eurem Leben anwenden.

Wer ist Dr. Becky Kennedy?

Wer sie nicht kennt: Dr. Becky Kennedy, auch bekannt als „Dr. Becky“, ist eine amerikanische Psychologin. Vom Time Magazine wurde sie zur „Elternflüsterin“ des neuen Jahrtausends gekürt. 

Dr. Becky übersetzt fundiertes Erziehungswissen in alltagsnahe und leicht umsetzbare Strategien und erreicht damit Eltern in den sozialen Medien ebenso wie über ihren Podcast. Ihr Ziel ist es, Müttern und Vätern effektive Werkzeuge bei Herausforderungen mit ihren Kindern an die Hand zu geben.

Worum geht es in Dr. Beckys TED TALK?

Dr. Becky beginnt ihren Vortrag mit einer Situation, die sich so oder so ähnlich vermutlich schon in jedem Hause abgespielt hat: 

Es ist endlich Freitag Abend, die Woche war echt anstrengend. Ihr seid von einer Freundin enttäuscht oder der der Chef hat euch angepflaumt. Ihr habt die Bahn verpasst, standet lang im Stau, kamt zu spät zu eurem Termin. Gesundheitlich seid ihr auch angeschlagen, wollt am liebsten einfach nur entspannen. Aber ihr rafft euch auf und kocht noch ein schönes Abendessen für die Familie. Bis euer Sohn an den Tisch kommt, angewidert sein Gesicht verzieht und etwas sagt wie „Bäh, schon wieder dieser ekelhafte Eintopf, kannst du nicht mal was Leckeres kochen? Widerlich.“ BÄMMMM. 

Was jetzt vielleicht passiert? Das Pulverfass explodiert. Ihr schreit euer Kind an, „was mit ihm eigentlich nicht stimmt“, ihr hättet euch so viel Mühe gegeben. Sagt ihm, dass es überhaupt immer absolut undankbar für ALLES in seinem Leben ist und dass andere Kinder schließlich nicht mal etwas zu essen haben. Mit dem Ergebnis, dass euch euer Kind ebenso anschreit und evtl. brüllt „ich hasse dich!“, während es in sein Zimmer rennt und die Tür zuknallt.

Fast immer beginnt wenige Momente später der toxische Kreislauf: ihr fühlt euch fürchterlich, vielleicht schäbig und schuldig, weil die Situation so eskaliert ist. Ihr fragt euch, was eigentlich mit euch nicht stimmt und seid der Überzeugung, ihr habt die Beziehung zu euerem Kind für immer versaut. Evtl. schämt ihr euch auch dafür, dass ihr euch so wenig unter Kontrolle hattet. Ob die Situation bei euch zu Hause regelmäßig in der beschriebenen Form eskaliert oder so gut wie nie:

ALLE Eltern machen Fehler im Umgang mit ihren Kindern. Unzählige, unfassbar viele Fehler, kleine und auch sehr große.

Es lässt sich nicht verhindern, denn es gibt keine perfekten Eltern. Aber was machen wir jetzt? Die Antwort von Dr. Becky ist: REPAIR. Also „wieder gut machen“. Bevor wir uns ansehen, was damit genau gemeint ist, lasst uns mal einen Blick darauf werfen was passiert, wenn wir einfach „gar nichts“ machen.

Was passiert, wenn ich es nicht wieder gut mache?

Die Fakten im o.g. Beispiel: mein Kind ist in seinem Zimmer. Überwältigt/ überfordert mit seinen Gefühlen, weil ich als seine Mama angsteinflößend rumgebrüllt und die Fassung verloren habe. Mein Kind muss jetzt selbst einen Weg finden, wie es sich wieder sicher und geborgen fühlen kann. Gehe ich nicht zu ihm und mache es wieder gut, greift er auf die einzige Bewältigungsstrategie zurück, die ihm als allein gelassenes Kind bleibt: Selbstvorwürfe. Das klingt in einem Kinderkopf etwa so:

Etwas stimmt nicht mit mir. Ich bin nicht liebenswert. Ich verursache schlimme Situationen.

Denn nur mit solchen Gedanken können Kinder den Glauben daran aufrecht erhalten, dass ihre Eltern gut und eine sichere Umgebung sind. Sie nehmen sich als Problem wahr, damit die eigenen Eltern in ihrer Welt weiter die Heiligen bleiben können. Jahre später wachsen durch solche Situationen Erwachsene heran, die o.g. Sätze als Glaubenssätze infiltriert haben. Diese sind oftmals der Auslöser für Depressionen, Angststörungen und/ oder ein tief sitzendes Gefühl von Wertlosigkeit. Lest den Absatz nochmal und lasst ihn bitte kurz auf euch wirken.

Genau dazu muss es nicht kommen und das heißt nicht, dass wir perfekt sein müssen. Aber wir müssen gut werden im Wiedergutmachen.

Die wichtigste Strategie für Eltern nach Dr. Becky: trainiere das „Wiedergutmachen“

Was meint Dr. Becky mit „Repair“? Eigentlich ganz simpel: gehe zurück zu dem Moment, als es zur Disconnection zwischen euch und eurem Kind kam. Übernimm Verantwortung für dein Verhalten und erkenne an, welche Auswirkung dieses für eine andere Person hatte. Dr. Becky unterscheidet an dem Punkt zwischen „Wiedergutmachung“ und „Entschuldigung“. Wieso?

Eine einfache Entschuldigung unterbindet einen Dialog eher. Meist geht es in so eine Richtung: „Hey, es tut mir leid, dass ich vorher geschrieen hab.“ Und dann, entweder ausgesprochen oder gedacht: „Können wir die Sache jetzt einfach vergessen und normal weitermachen?“.

Wir wissen heute, dass sich unsere Erinnerungen nicht einfach nur auf das ursprüngliche Ereignis beziehen. Es ist eine Kombination aus diesem ursprünglichen Ereignis und jedem anderen Moment, in dem wir uns an dieses Ereignis erinnern. Darum ist Therapie auch hilfreich. Schmerzhafte Erinnerungen durchleben wir erneut in einer sicheren Umgebung und in Verbindung mit einer Vertrauensperson. Das traumatische Ereignis bleibt. Aber die Geschichte verändert sich. Und damit veränderst du dich. Wie sieht die Wiedergutmachung nun konkret heute mit unseren Kindern aus?

Zwei Schritte, der Wiedergutmachung

1. Wiedergutmachung mit mir selbst:

Bevor ich zu meinem Kind gehe, muss ich für mich selbst sorgen. Konkret bedeutet das: ich trenne mein Verhalten (was ich getan habe, in dem Fall schreien) von mir als Person (wer ich bin). Somit dürfen zwei Sätze nebeneinander existieren: „Ich bin nicht stolz auf mein Verhalten am Esstisch“ und „Mein Verhalten am Esstisch definiert nicht, wer ich bin“. Vielmehr: ich bin eine gute Mutter oder ein guter Vater, der einen schlechten Moment mit seinem Kind hatte. Jetzt kann ich meine Energie dafür nutzen mir zu überlegen, wie ich in einer ähnlichen Situation nächstes Mal anders/ besser reagieren kann. Und ich kann meine Energie in die Wiedergutmachung mit meinem Kind stecken.

2. Wiedergutmachung mit meinem Kind:

Dr. Becky denkt in dem Fall an drei Komponenten: 1) Verbalisiere, was passiert ist. 2) Übernimm Verantwortung. 3) Sag, was du nächstes Mal besser machen möchtest. Das könnte sich in o.g. Beispiel etwa so anhören:

„Hey, ich hab nochmal darüber nachgedacht, was beim Abendessen passiert ist. Es tut mir leid, dass ich geschrieen hab. Ich bin mir sicher das muss sich für dich beängstigend angefühlt haben. Es war nicht deine Schuld. Ich arbeite daran, dass ich gelassener bleibe, auch wenn mich etwas sehr verletzt.“

Das ist alles. Wenige Worte, aber mit einem lebenslangen, positiven Effekt für das Kind.

Und wenn ich aber finde, mein Kind hat die Eskalation verursacht?

Was wir durch o.g. Reaktion verhindern können, ist dass das Kind sich selbst die Schuld für unser Verhalten gibt und auf dieser Grundlage schädliche Glaubenssätze bildet. Wer aber der Meinung ist, dass das Kind Schuld schuld sei an unserer Wut, dem möchte ich diese Worte von Jesper Juul ans Herz legen (aus „4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen“ – dieses hier)

(…) Wenn Eltern frustriert über die Beziehung zu ihren Kindern sind, ist das jedoch niemals die Schuld der Kinder. Vielmehr stehen Sie in der Verantwortung, Ihren eigenen Beitrag zur Gesamtsituation zu ändern. Wenn wir dem Kind die Schuld geben, kränken wir seine persönliche Integrität und reduzieren seine Lebenstauglichkeit.“

Die Verantwortung für unseren Kontrollverlust dürfen wir nicht auf unsere Kinder übertragen. Es ist unsere Aufgabe, mit unseren Emotionen so umzugehen, dass wir unsere unerfüllten Bedürfnisse so kommunizieren, dass unser Kind weder überfordert, noch ängstlich ist. Alles andere wäre ein miserables Vorbild für unsere Kinder, was emotionale Regulation angeht.

Wir schieben den Kindern übrigens auch Verantwortung zu, wenn wir Entschuldigungen aussprechen mit der Botschaft, die Dr. Becky „but it´s your fault anyway“ nennt. Die könnten etwa so klingen:

  • „Es tut mir leid dass ich geschrieen hab. Aber hättest du dich nicht über mein Essen beschwert, wäre das nicht passiert.“
  • „Tut mir leid wegen vorhin. Aber du solltest wirklich dankbar sein, dass ich mir die Mühe mache zu kochen. Dann hätte ich auch keinen Grund dich anzuschreien.“

Übernehme ich Verantwortung für mein Verhalten (in dem Fall: Gebrüll), dann bin ich das beste Vorbild für meine Kinder und sie werden zu Erwachsenen heranwachsen, die genau das tun: Verantwortung für sich übernehmen und lernen, ihre Emotionen zu regulieren.

Das beste?

Ich hab mich durch die Wiedergutmachung wieder mit meinem Kind verbunden. Und kann ihm jetzt etwas beibringen, was in den vorangegangenen Momenten nicht möglich gewesen wäre. Vielleicht klingt das etwa so: „Du wirst auch in Zukunft nicht immer mögen was ich koche. Ich frage mich, ob du in solchen Situationen bspw. auch sagen könntest ‚hmm, das ist heute nicht mein Lieblingsessen‘?“.

Wir bringen unserem Kind bei, wie es sich regulieren oder ausdrücken kann, wenn es enttäuscht von etwas ist. Allerdings respektvoll und höflich. Nach der Wiedergutmachung, in Verbindung mit dem Kind und nicht in der emotionalen Ausnahmesituation.

Dr. Becky beendet ihren Vortrag mit einer Fantasiereise.. Stellt euch vor, ihr bekommt heute einen Anruf von eurer Mama oder eurem Papa. Falls sie nicht mehr leben, stellt euch vor ihr findet einen Brief von ihnen. Darin steht:

„Hey du, ich weiß das kommt unerwartet, aber ich habe viel über deine Kindheit nachgedacht. Mir wurde klar, dass es einige Momente gab, die sich für dich schlimm angefühlt haben müssen. Dass du damals diese Gefühle hattest, ist heute für mich total nachvollziehbar. Das war alles nicht deine Schuld. Ich hatte selbst Probleme zu der Zeit und wenn ich nochmal zurückspulen könnte, würde ich zuerst mich beruhigen und dann zu dir kommen. Ich würde dir helfen bei allem, was so schwer für dich war. Es tut mir so leid. Ich versichere dir: wann immer du das Bedürfnis hast, mit mir nochmal über diese Situationen zu sprechen: ich bin für dich da. Ich höre dir zu. Du bist nicht alleine.“

Wahrscheinlich lösen diese Zeilen in allen von uns ähnliche Gefühle aus. Und die sind das beste Beispiel dafür, warum es tatsächlich nie zu spät ist.

Alles Liebe, Julia